English summary
Aktualisiert Januar 2025
Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.
Anonymus
Ich bin besorgt.
Fast unbemerkt ist etwas entstanden, das ich nicht verstehe und das mich ängstigt. Ich habe ihm den Namen KI gegeben – Künstliche Intelligenz. Ich habe der KI die Fähigkeit verliehen, selbst zu lernen. Wie sie das macht, weiß ich nicht. Aber in kurzer Zeit spielt die KI Schach und Go besser als ich und auch besser als alle elektronischen Rechenmaschinen der Vergangenheit (AlphaGo)(Alpha Go gegen Lee Sedol).
Die KI schreibt Romane, Dissertationen und Musik. Sie erzeugt Bilder, die so täuschend echt sind, dass ich sie kaum noch als Fälschungen erkennen kann. In den sozialen Netzwerken wird die KI zum Influencer, zur Influencerin, dessen und deren Meinungen und Vorlieben für andere zum Vorbild und zur Inspiration werden (Netzpolitik.org, 2023). Und natürlich kann sie auch in Militärdrohnen eingesetzt werden und über Leben und Tod von Menschen entscheiden (National Geographic, 2024).
Schon schreibe ich Horror-Geschichten über ein superintelligentes Silizium-Wesen mit furchteinflößender Unpersönlichkeit, welches ich selbst geschaffen habe und welches mich, die Krone der Schöpfung, unterjochen wird. Ich verstehe nur ansatzweise, wie die KI in Zukunft meine verschiedenen Lebenswirklichkeiten verändern wird – aber höchstwahrscheinlich auf drastische Art und Weise. (Lobo, 2019)
Andererseits lese ich staunend von todesmutigen – oder sollte ich besser sagen: unglaublich dummen – Menschen, die ihr Leben einem autonom fahrenden Auto anvertrauen und dabei zu Schaden kommen. Es ist ein merkwürdiges Phänomen: Je komplizierter die Technik und je weniger ich sie verstehe, desto mehr unbegründetes Vertrauen setzte ich in sie.
Sollte ich nicht besser, bevor ich mich in den Kampf mit der Matrix oder einem selbstfahrenden Tesla begebe, darüber nachdenken, welche schrecklichen, weitgehend unabsehbaren Folgen das Wirken und Walten einer ganz anderen Intelligenz hat – nämlich meiner eigenen?
Für die natürliche Intelligenz – für die es keine Abkürzung gibt – und deren Walten ich ebenfalls nur unvollständig verstehe.
Ob nun der Verstand oder die Vernunft die höhere Instanz ist, darüber streite ich mich seit Jahrhunderten erbittert mit mir. Natürlich auch darüber, ob es überhaupt einen Unterschied gibt. Im allgemeinen Verständnis tue ich mich schwer, einen solchen zu definieren. Der Verstand analysiert das mich Umgebende, erstellt Vermutungen über Kausalitäten, hilft mir, durch den Tag zu kommen. Die Vernunft soll dann allgemeingültige und für mich überlebens-wichtige Schlussfolgerungen konstruieren. Dabei übersehe ich die grundlegende Tatsache, dass entwicklungsbedingt deutlich ältere Anteile meines Gehirns, meine Wahrnehmung filtern und alles, was mich an Sinneseindrücken erreicht, beeinflussen. Trotzdem halte ich meine Wahrnehmung der Realität für wahr und vollständig. Mein Gehirn stellt aber nur Vermutungen über die Wirklichkeit an und trifft Vorhersagen (predictive processing), die manchmal weit an der Realität vorbeigehen. Mein Gehirn ist nicht dafür gemacht, die Welt objektiv zu erkennen, sondern einzig allein dafür, mein Überleben als Individuum zu sichern. Ob das auch nützlich für die Spezies und diesen Planeten ist, wird die Zukunft zeigen.
„Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie ist, sondern wie es für uns nützlich ist“ (Sterzer, 2022).
Ich halte meinen Verstand für ein unabhängiges Instrument das ich beherrsche, und das zu klaren, logischen Schlüssen fähig ist. Und das, ohne irgendeine Rücksicht auf die Folgen des daraus resultierenden Tuns zu nehmen. Dabei sollte ich es besser wissen. Ich bin allzu sehr versessen auf eine Leichtigkeit – Faulheit – des Denkens und (vor-)schnelle Entscheidungen, die mir vorlautes und leicht zu beeinflussendes ‚System1‚ (Kahnemann, 2016) präsentiert.
Wo der Verstand aber nur rudimentär erkennen kann, kann die Vernunft auch keine visionären Entwürfe für die Zukunft der Spezies Mensch zeichnen. Es verhält sich ähnlich wie Ethik zu Moral. Moralische Ansichten habe ich viele – teilweise verschwommene und unscharfe. Eine allgemein gültige Weltethik, die ein auskömmliches Zusammenleben der Spezies Mensch ermöglichen würde, ist mir bis heute nicht geglückt.
Ich hänge fest im Düsterwald von Ahnungen, Ängsten und den Deutungen meines Hirnstamms. Meine Ängste versuche ich dadurch zu beherrschen, dass ich mir alternative Surrogate schaffe, in die ich mit Hilfe noch relativ primitiver bioelektronischer Schnittstellen einzutauchen versuche. Ich betrachte virtuelle Realitäten und verdränge in einem neuen bunten Metaversum gekonnt die Tatsache, dass mein reale, einzig wirklich existierende Umwelt den Bach runtergeht.
Wenn ich den neurowissenschaftlichen Untersuchungen glauben kann, dann haben Vernunft und Verstand unterschiedliche Lokalisation im Gehirn. Trotz aller Bemühungen gibt es bis heute keine genaue Landkarte des Gehirns. Nach Einzelfallbeobachtungen sind fokale Schädigungen des Gehirns mit einem unvernünftigen oder aber einem unverstandesmäßigen Verhalten verbunden. Andererseits werde ich trotz intensiver Suche bei Verschwörungstheoretikern keine auffällige Hirnwindung finden, die mir das standhaftes Leugnen der Fakten erklärt.
„Habe den Mut, dich deines eignen Verstandes zu bedienen“, schreibt der Philosoph Immanuel Kant.
Ich füge hinzu: „Und die Vernunft, deinem Verstand stets zu misstrauen“.
Die Gedanken sind frei und deshalb dringend geboten, sie genau im Auge zu behalten.
Was nutzt mir eine akademische Diskussion über den Verstand/die Vernunft für mein daraus resultierendes, unvernünftiges, ja katastrophales Verhalten? Da mache ich mir in meiner guten Stube am Schreibtisch jahrzehntelang über menschliche Grundsatzprobleme tiefgreifende Gedanken und frage mich: „Was kann ich wissen?“ Ich kann darüber grübeln, wie ich in einer bestimmten Situation handeln soll und ethische Basisprotokolle erstellen. Wie soll ich zum Beispiel das Leben eines einzelnen Menschen bewerten – wenn es sich zum Beispiel um einen rücksichtslosen Diktator handelt. Ist dann ein Attentat gerechtfertigt? Und wenn dabei Unbeteiligte sterben? Ist Mord mit irgendeiner Rechtfertigung möglich? Ist die Todesstrafe legitim?
Wenn ich aber in einer neuen, mir unbekannten Situationen rasch handeln muss: Wer oder was entscheidet sich dann; meine Vernunft, das ethische Basisprotokoll?
Nein, meine neuronalen Netzwerke auf ihrer elektrochemischen Basis berechnen Wahrscheinlichkeiten, die im Wesentlichen darauf angelegt sind, mein eigenes Überleben als Individuum zu sichern. Das Programm heißt Me first. Es ist ein evolutionäres Grundlagenprogramm und äußerst erfolgreich. Wer überlebt, ist angemessen angepasst. So war es zumindest bislang.
Vergleichbar einem Computer bin ich abhängig von meinem Betriebssystem, meiner Basisprogrammierung – dem weitgehend unbekannten Hirnstamm-BIOS. Daran komme ich nicht vorbei. Diese uralte Programmierung ist die Grundlage meines Handelns. Wie bei Microsofts Window ist mir der Quellcode nicht bekannt, doch er kann von niemanden geleakt werden.
Das Savannen-Betriebssystem hat bis heute kein relevantes Update erfahren. Einzelne Handlungs-(Programm-)abläufe mögen sich bei der Umstellung vom Jäger und Sammler zum sesshaften Dorfbewohner geändert haben. Aber ich bin noch nicht lange genug im evolutionären Prozess zugange. Also verhalte ich mich so, wie meine Grundprogrammierung es zulässt: Flucht oder Angriff. Die Evolution hat mich für das Überleben optimiert. Die Anpassung entspricht dem Vorhandensein einer realen Welt zu der unser Geist, unsere Sinne passen. Doch wenn sich unsere Welt rapide verändert, ohne dass unser Geist Zeit hat, sich anzupassen, stehen wir vor einem Problem: Wir haben keine passenden Antworten mehr.
Außer Flucht und Angriff käme heute noch eine dritte Option in Betracht: Nachdenken. Sofern ich davon ausgehe, dass ich das kann.
Doch diese dritte Option steht in einem deutlichen Widerspruch zu meinem affektgesteuerten Verhalten. Es ist auch nicht förderlich, dass wir zunehmend in einer Zeit der Zeitlosigkeit leben. Entscheidungen müssen, so wird mir suggeriert, schnell getroffen werden. Ein Homo sapiens sapiens, der auf eine Frage nicht direkt eine wohlformulierte Antwort geben kann, wird mit Argwohn betrachtet. Ich bin nur dann ein Held, wenn ich ohne Umschweife in Aktionismus verfalle (Action Bias).
Wenn sich dieser Aktionismus im Nachhinein als Fehlentscheidung herausstellt, dann werde ich flink eine neue Geschichte dazu erzählen: Mein Scheitern wird zum Erfolg erklärt. Meine ultrakurze Aufmerksamkeitsspanne verhindert erfolgreich, dass ich mich an die falschen Ideen und gebrochenen Versprechungen von vorher erinnere. Deshalb gewinnt der Homo politicus seine Wahlen mit immer den gleichen Slogans. Ich nenne es politische Demenz.
Meine Vernunft ist ein Vorwand, mein Verstand ein bereitwilliger Geselle, mein unvernünftiges Verhalten in ein rationales Gewand zu stecken, wenn ich wieder den größten Blödsinn anstelle.
Bin ich ein rationales oder irrationales Wesen? Oder…
…bin ich einfach nur dumm?
Bin ich klammheimlich auch noch stolz auf mein irrationales Verhalten? Ist möglicherweise dieser Stolz auf den Unsinn, den ich oft genug verzapfe, mein größtes Handicap? Dabei will ich doch als vernünftiges, kluges Wesen gelten – als Krone der Schöpfung.
Unter vernünftigem Tun verstehe ich menschliches Verhalten, das eine überlebenswerte Welt für mich, meine Spezies und auch (!) meine Mitgeschöpfe schafft und erhält.
Ich bin eine humanitäre Katastrophe – und das ist ein Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens sapiens.
Mein eigener Untergang wäre vielleicht verzeihlich, nicht aber der gigantische Kollateralschaden: die Zerstörung des globalen Ökosystems Erde.
Leider gibt es dagegen nirgendwo eine Versicherung gegen die Folgen meiner Unvernunft – eine Police gegen Dummheit.
Es ist nicht so, dass ich das nicht wüsste. Mir sind die Probleme und die zunehmenden Baustellen um mich herum nur zu gut bekannt. Das macht mich wütend und frustriert. Wenn ich mit offenen Augen durch die Welt gehe, oder es zumindest versuche, kann ich es sehen, aber ich will nicht.
Meine Mitmenschen haben sich viele Gedanken gemacht. Kluge Bücher stehen in den Regalen der Bibliotheken, sind abrufbar im Internet, sind besprochen und kommentiert. Aber im tiefsten Inneren habe ich sie nicht verstanden oder will und kann ihr Wissen und ihre Handlungsempfehlungen nicht annehmen (Fromm, 1979) (Richter, 1979) (Harari, 2018).
Die klugen Gedanken haben keine Auswirkung auf das kollektive menschliche Handeln. Für dieses Dilemma gibt es einen Fachbegriff: Kognitive Dissonanz. Obwohl ich weiss, dass ich falsch handele, tue ich es – immer wieder, mit größter Begeisterung. Seit dem Anbeginn meines Handelns.
Trotz all dieser stimmigen Analysen und unübersehbarer Warnzeichen in meiner Umwelt bin ich nicht willens – schlimmer noch, ich bin nicht in der Lage – etwas an mir und meinem Handeln als Spezies zu ändern. Die mich antreibenden Emotionen und inneren Kräfte lassen sich nicht kontrollieren. Ich habe die Übersicht und gleichzeitig auch nicht. Ich habe keine Macht über meine destruktiven Handlungen: Aber mein Narrativ ist ein anderes.
Ich bin mir völlig im Klaren, dass die Bildung und Erziehung meiner Kinder – der kommenden Generationen – die wichtigste Aufgabe sein muss: Für Chancengleichheit, gegen Armut, für ein selbstbestimmtes Leben und gegen Unterdrückung. Bildung sichert das Überleben der Spezies.
Es sollte keine Erziehung sein, die junge Menschen in eine speziellen ideologischen Weltsicht funktionieren läßt. Sondern eine Erziehung der inneren Ausgeglichenheit, der emotionalen Stabilität und Empathie mit allem, was uns umgibt. Nicht Faktenwissen steht an erster Stelle, sondern die Fähigkeit, selbsttätig und unbeeinflusst zum Verständnis von Zusammenhänge nichtlinearer Systeme und zu überlebenswichtigen Schlussfolgerungen zu gelangen (Vester, 1989).
Es sollte auch und vor allem um die Vermittlung von Werten gehen, die ich schon so oft vergeblich beschworen habe: Gleichheit, Freiheit, Schwesterlichkeit. Mein fester Glaube an eine der Welt inne wohnende Gerechtigkeit, an ein Happy End (Lerner, 1980) ist unbegründet. Ich will den alles regierenden Zufall und das mich umgebende Chaos nicht wahrhaben, weil sie mir Angst machen. Die Filmindustrie lebt zu einem großen Teil von Helden und Heroen, die nach spannungsreichem Kampf erfolgreich den Sieg über die dunklen Mächte und die Schurken davontragen. Ich liebe diese Filme.
Aber warum gehen nicht alle Kinder – auch die Mädchen – dieser Welt in eine Schule? Gut gekleidet, mit einem Pausenbrot ausgerüstet und frei von Angst? Warum indoktriniere ich meine Kinder mit falschen, lebensfeindlichen Ideologien? Warum müssen Kinder in vielen Ländern – ohne Hoffnung auf Besserung – in Bergwerken schuften oder sich prostituieren? Warum gibt es Kindersoldaten?
Angeblich gibt es in unserer modernen Welt keine Sklaverei mehr. Ich weiss, das stimmt nicht. (Unicef),(Skinner, B., 2008). Ich lese erschüttert von weltweiten Netzwerken, die mit Kinderpornografie handeln. Frauen und Kinder sterben eingesperrt in Fabriken in Fernost, die keinerlei Sicherheitsstandards bei Bränden aufweisen. Sie müssen für einen Hungerlohn arbeiten. Die internationalen Konzerne können aber ein zweifelhaftes Zertifikat über angeblich faire Arbeitsbedingungen vorweisen. Damit die Menschen der Ersten Welt die billigen Klamotten ohne Gewissensbisse heute anziehen und morgen wegwerfen können.
In der Adventszeit sehe und spende ich im Fernsehen: „Ein Herz für Kinder“. Den Rest des Jahres wende ich mich ab, vom Leid der Schwächsten. Vom Leid derer, die die Zukunft meiner Spezies sind.
Nicht einmal in der reichen Republik Deutschland ist es möglich, allen Kindern gleiche Chancen zu bieten, egal aus welcher sozialen Schicht oder aus welchen Ländern sie kommen. Die schulische Infrastruktur muss dringend erneuert werden, beginnend mit der Bausubstanz, ganz zu schweigen vom Lehrermangel, von veralteten Lehrmitteln und überholten Denkstrukturen: Wie der Idee, dass Noten etwas über menschliche Qualitäten aussagen. Oder die Idee, Quantität von Lehrstoff ersetze die Qualität. (Dt. Schulportal) (PISA Studie 2023).
Die kommenden Generationen sollen es richten, sollen es besser machen. Aber wie soll das gehen, wenn ich ihnen nicht beibringe, was wirklich wichtig ist?
Fernseher und die anderen allseits verfügbaren Bildschirme flackern in meiner Wohnhöhle. Sie sind ein machtvoller Ersatz für die Magie der alten Feuerstelle, um die sich meine Urahnen in ferner Vergangenheit gedrängt haben, die sie gewärmt und ihnen Sicherheit versprochen hat. Schon damals wurden an den Feuerstellen Geschichten erzählt. Es waren Geschichten, die das Überleben der Gemeinschaft befördert haben. Auch heute verbreiten die – jetzt digitalen – Feuerstellen Geschichten. Allerdings ist ein Großteil dieser Erzählungen für die Gemeinschaft nicht mehr hilfreich, ganz im Gegenteil.
Die Anzahl der Geschichten ist für mich heute nicht mehr zu bewältigen. Die Menge an Informationen, an Meinungen und nicht zuletzt an reinem Unsinn ist schlicht unüberschaubar. Und gleichzeitig werde ich, ohne es zu merken, von einer Vielzahl von Algorithmen mit genau den Informationen versorgt, von denen der Algorithmus annimmt, dass ich sie sehen will. So verharre ich, wie gefesselt, vor meinem Bildschirm, das echte Leben – die Begegnung, der Austausch mit realen Personen – findet nicht mehr statt. Noch einen großen Unterschied zu früher gibt es: Heute bin ich dieser unendlichen Anzahl von Einflüsterungen allein ausgeliefert. Ich vertraue fernen, gut aussehenden Influencern, will so sein, wie sie und verliere das Vertrauen zu meinen realen Mitmenschen.
Ich besitze nicht die digitale Kompetenz, von der ich so schwärme.
Von Sokrates ist überliefert: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“. Ich finde diese Aussage großartig, die Selbsterkenntnis einzigartig. Aber ich denke in keinen Augenblick daran, dieses Nichtwissen auch auf mich zu beziehen. Ich bin großartig in meiner Unbescheidenheit. Ich habe schließlich Bibliotheken voller Bücher geschrieben.
Ich habe mir jahrtausendelang Gedanken über mich und mein Leben gemacht. Und es ist nichts Vernünftiges dabei herausgekommen, das meine Lebensumstände grundlegend verbessert. Also nicht nur heute, sondern perspektivisch auch für kommende Generationen. Ich halte die Zustände für alternativlos, kann mir ein anderes System gar nicht vorstellen. „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, sagte Helmut Schmidt, ehemaliger Bundeskanzler. Für Visionen ist bei mir kein Platz.
Und immer weiter und weiter bemühe ich mich, mein Nichtwissen durch das Abfassen gelehrter Traktate zu verschleiern. Der Fortschritt scheint im Internet, in den scheinbar unendlichen Datenbanken zu liegen, die alles bekannte Wissen fassen. Macht mich das klug?
„Die Wahrheit ist, was Google sagt: wir vertrauen der künstlichen Intelligenz, deren Algorithmen wir nicht verstehen“. (Harari, 2018) Da ist sie wieder, die KI und meine Angst und Abhängigkeit vor und von dem Künstlichen.
Ich habe sogar Bücher über menschliche Denkfehler geschrieben, die mir tagtäglich unterlaufen. Ich lese diese Bücher, bin fasziniert und erheitert. Und am nächsten Tag lande ich wieder in den altbekannten Denkfallen (Dobelli, 2011)(The Cognitive Bias Codex).
Vater und Mutter aller Denkfehler ist, dass ich unverdrossen glaube, ich könnte diese Welt mit meinem Verstand erfassen. Die Menge an Gedanken (inklusive jedweden Unsinns) ist in Zeiten des Internets exponentiell steigend. Es sind aber keine neuen Gedanken und Erkenntnisse. Es sind immer wieder dieselben Zusammenhänge. Es scheint, als kämpfen meine Savanneninstinkte und meine Vernunft permanent um eine korrekte Beurteilung der Welt.
Das geht regelmäßig schlecht aus – für die Vernunft.
Auf der Flucht vor dieser unbequemen Wahrheit verliere ich mich in die Sucht. Ich trinke, esse, arbeite, spiele zu viel. Es ist nicht auszuschließen, dass ich dies in selbstmörderischer Absicht tue, obwohl ich das niemals zugeben würde. Menschliches Übergewicht hat pandemische Ausmaße angenommen (NDR, Jan 2025). Es hat seinen Preis, sich stets und ständig verfügbare hochkalorische Lebensmittel einzuverleiben. Während gleichzeitig die globalen Hungerkatastrophen zunehmen und unglaubliche 30-40% der weltweiten Lebensmittel Produktion nicht beim Verbraucher ankommen (Umweltschutzorganisation WWF, Umweltbundesamt).
Die negativen Auswirkungen meiner durchgetakteten globalen Leistungsgesellschaft sind mir vage bewusst – das hilft mir aber nicht. Zusätzlich verbrauche ich unglaubliche Mengen an Zeit, Kompetenz und wirtschaftlicher Leistung, um die negativen Auswirkungen der fortschreitenden Entmenschlichung des Schneller/Höher/Weiter zu bekämpfen. Ich kämpfe wie Don Quijote gegen die übermächtigen Windmühlen des internationalen Drogen-, Waffen- und Menschenhandels. Diese Entwicklung bedroht zunehmend intakte Staatssysteme, die Kontrolle und Autorität verlieren und in denen nur noch das Recht des Stärkeren zählt. (blickpunkt-lateinamerika.de)
Dabei übersehe ich bewußt den Umstand, dass der/die Konsument*in und seine unerfreulichen Lebensumstände das Problem sind, welches gelöst werden sollte und nicht der Dealer. Aber Geld und Energie in Prävention zu stecken, widerstrebt mir, obwohl es vernünftig wäre.
„Leistung lohnt sich“, eine grandiose Lüge. In dem Begriff „Neoliberalismus“ steckt ein doppelter Mythos. Es ist ganz und gar nichts Neues an dem alten Prinzip: „der Stärkere gewinnt!“ Und zweitens: Von Freiheit keine Spur!
Wenn ich nur darüber nachdenke, jedem Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen zukommen zu lassen, wird mein aktuell falsches System in seinen Grundannahmen infrage gestellt. Und die Wenigen, denen das System nutzt, die die Geschichte erzählen, dass Jede*r es schaffen kann, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, wehren sich erbittert gegen Veränderungen. Der bewußt lancierte Mythos vom notwendigen Konkurrenzkampf, der naturgegeben ist – Charles Darwin und Herbert Spencer wären entsetzt, wozu ihre Erkenntnisse missbraucht werden – versperrt mir den ernüchternden Blick auf die Tatsache, dass wir uns, trotz allem vorgeblichem Fortschritt, immer noch in unseren Hamsterrädern abrackern müssen – jedenfalls die allermeisten.
Dabei sollte es uns allen besser gehen!
Die Geschichte vom Alleinverdiener, der seine Familie ernähren kann, ist auserzählt. Heute, wie damals, erzähle ich zunehmend matt die abgegriffene Geschichte, dass sich jede*r in seinem/ihrem Beruf verwirklichen soll. Auch wenn ich mir und meinen Mitmenschen gar nicht die Gelegenheit dazu gebe.
Ich tue nicht, was vernünftig wäre: In Allgemeinbildung zu investieren, die es mir ermöglichen würde, die mich umgebenden falschen und erniedrigenden Zusammenhänge zu durchschauen. Es bestünde dann die reale Gefahr, diesen Wahnsinn ändern zu wollen. Ich würde mich zum Beispiel dem alles zerstörenden Konsumwahnsinn entziehen wollen. Daran kann ein Jeff Bezos kein Interesse haben.
Damit ich diesen zermürbenden Rhythmus des Immer-Mehr aushalte, habe ich eine Achtsamkeitsindustrie gegründet. Westliche Homo sapiens sapiens begründen ihre neue Zuversicht, ihre Heilsversprechen in östlichen Lebensweisheiten, die sie aufgrund fehlender Sozialisation und Lebenserfahrung kaum oder falsch verstehen. Eine Buddha Statue im Garten, eine Klangschale im Regal sorgt für Wohlfühl-Karma.
Die achtsame 5-Minuten Meditation soll mich befähigen, meinen stressigen 10 Stunden Arbeitstag mit kleinen Pausen, im Übrigen aber äußerst produktiv zu überstehen. Bloß immer an die richtige Atmung denken, wenn Chef*in wütend anrauscht.
Wenn ich darüber unglücklich oder gar krank werde, dann steht es mir frei, mich mit diversen Lebensratgebern zu versorgen. Dieser Markt der Lifestyle-Coaches ist gigantisch und wächst und wächst. Diese Ratgebenden erklären mir, was ich falsch mache. Sie erklären mir nicht, dass das System fragwürdig ist und mich kaputt macht. Dass ich in diesem System machtlos bin, ist ein perverser Mythos. Schließlich habe ich dieses System selbst geschaffen. Ich will es doch so, oder?
Wenn ich nun gar nicht mehr funktionieren will oder kann, dann stehen weitere Legionen von Expert*innen bereit. Eine therapeutische Industrie von Körper- und Psychotherapeuten, Heilpraktiker*innen wird sich aufopferungsvoll, wenn auch nicht umsonst, um mein kaputtes Selbst bemühen. Horst-Eberhard Richter hat in seinem Buch „Der Gotteskomplex“ ‚Der Krankheit, nicht leiden zu können‘ einen ausführlichen Abschnitt gewidmet. (Richter, 1979).
Das kranke Selbst kann dabei vielgestaltige Beschwerden verursachen: im Kopf, im Herzen, auch gerne im Rücken. Mein Körper ist die Projektionsfläche meiner unerfüllten Wünsche, meiner Traumatisierung. Dass es mir nicht gut geht, so wird mir erklärt, liegt in meiner unglücklichen Kindheit und Jugend. Wenn ich nur lange genug nachdenke und mich analysieren lasse, dann werde ich einen Weg finden, die aktuell beschissene Lage als angenehm und lebenswert zu empfinden. Es geht nicht um den Logos (die Welt, wie sie ist), sondern um den Mythos (denk dir die Welt schön). Da ist sie wieder – die gefühlte Wirklichkeit.
Auch bei der Reparatur meines verletzten Selbst wird ein wirtschaftlicher Wert gemessen und geschaffen und es wird daran verdient. Ich schaffe einen fragwürdigen wirtschaftlichen Wert, wenn ich fleißig arbeite, aber einen noch fragwürdigeren Wert, wenn ich krank werde. Wann immer etwas verdient wird, gibt es Interessen, die verhindern, dass an dem merkwürdigen Tun oder seinen Ursachen Anstoß genommen wird. Ob die Körper- oder Seelenreparatur im Einzelfall erfolgreich ist, das ist dem System letztlich egal. Das wird in unserer Gesundheitsindustrie nicht gemessen.
Wie schon gesagt: Prophylaxe ist mir langweilig.
Ich bin meinen inneren Plänen und Programmierungen ausgeliefert z.B., dem Instinkt, mich zu vermehren. Dem Imperativ der Evolution entkomme ich nicht. Das Regulativ der periodischen Paarungsbereitschaft ist bei Homo sapiens sapiens ausgesetzt, ich kann und will immer. Eigentlich habe ich zu wenig Planet für zu viel Mensch. Und es gibt den Mythos des heiligen, unantastbaren Lebens. Entgegen aller traurigen Realitäten von Krieg und Gewalt, wird unablässig gefordert, das Leben zu schützen, auch das ungeborene.
Sollte ich nicht damit beginnen, zunächst vor dem bereits existierenden Leben (und nicht nur dem menschlichen) uneingeschränkte Achtung zu haben?
In den Institutionen der katholischen und evangelikalen Kirchen gibt es eine zunehmend starke Bewegung gegen jegliche Art von Geburtenkontrolle (Zeit.de, Südwind Magazin, 2020). Das schließt auch ein Verbot von Kondomen ein, mit denen ich mich auch gegen sexuell übertragbare Krankheiten schützen könnte. Die weltweite Verbreitung der Immunschwäche Krankheit AIDS und die Zunahme anderer sexuell übertragbarer Krankheiten ist unter anderem diesem Sachverhalt geschuldet. Sexualerziehung ist bei den Populisten, den Ultrakonservativen, verpönt. Sie befürchten eine „Frühsexualisierung“ – was auch immer das sein soll – und verdrängen die Tatsache, dass das World wide web voll ist mit Pornographie, auf die jedes Kind fast ungehindert zugreifen kann. Sch
Der unbedingte Schutz der ungestörten Empfängnis und des ungeborenen Lebens ist der heilige Krieg der katholischen Kirche und evangelikalen Bewegungen. Auf das Recht der Selbstbestimmung von Frauen kann ich dabei keine Rücksicht nehmen (Berlin Institut, 2019). Darüber gibt es keine Debatte. Das konservative Rollenverständnis ist klar. Die Frau steht am Herd, der Mann geht zur Arbeit. So ist das von Gott gewollt.
Inwieweit ein Kind und seine Familie nach der Geburt eine Umwelt vorfinden, in der es sich lebenswert leben läßt oder ob Mensch sich im zunehmenden Konkurrenzkampf mit seinen Mitmenschen befindet, ist in dieser Betrachtung nicht vorgesehen. An dieser Stelle greift dann der Mythos von der zukünftigen Welt, dem Paradies. Das Narrativ lautet: Wir leben nicht für Diesseits, sondern für das paradiesische Jenseits. Für das Paradies braucht es nur eine Kleinigkeit: ich muss ganz fest daran glauben.
Eine bange Frage stelle ich mir dabei: wenn wir alle ins Paradies kommen, wieso sollte das dann ein besserer Ort sein? Sind dann alle unsere Mängel von uns abgefallen und wir zum Kern der Weisheit gelangt? Vielen meiner aktuellen und ehemaligen Mitmenschen möchte ich im Paradies auf keinen Fall noch einmal begegnen.
Glauben beschränkt sich aber nicht nur auf die Religion. Im Wesentlichen bin ich ein Glaubenswesen, kein Wissenswesen. In der Savanne vor hunderttausenden Jahren war es wichtig, der Warnung vor einer drohenden Gefahr, Glauben zu schenken, ohne letztlich zu wissen, ob die Gefahr nun wirklich lauert. Besser einmal zu oft weggelaufen, als vorzeitig im Nahrungskreislauf anderer Spezies zu enden. Aber das war doch früher?
Heute bin ich doch viel weiter – oder nicht?
Sorry, dem ist nicht so. Auch heute glaube ich und verwechsele das mit Wissen. Vor allem Fakten, die mir angenehm sind, die meine Meinung unterstützen, nehme ich bevorzugt wahr. (Confirmation Bias). Und wenn ich Glauben mit Wissen verwechsle, dann habe ich ein ernstes und zunehmendes Problem.
Die globalen Probleme werden nicht weniger, wenn ich nicht an sie glaube.
Dem Klimawandel oder dem Corona-Virus ist es völlig egal, ob ich ihn anerkenne oder nicht. Gegen die wachsenden existenzbedrohenden Probleme meines Heimatplaneten hilft nur vertieftes Wissen und geduldiges, anerkennendes Verständnis. Gefolgt von konsequentem Handeln. Beides liegt mir fern.
Wenn ich die düsteren wissenschaftlichen Prognosen über den Klimawandel leugne (EIKE Institut) und die seriösen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen als Panikmacher diskreditiere, werde ich den nachfolgenden Generationen keinen Dienst erweisen.
Das war schon zu allen Zeiten ein probates Mittel im Umgang mit schlechten Botschaften: töte den Überbringer der Botschaft.
Da sind wir dann bei meinem heiligen Gral: der Wissenschaft.
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